Sie haben die Wettquoten angeführt und am 14. Mai 2022 den Sieg mit «Stefania» geholt: Kalush Orchestra. Wie ist der Sieg zu bewerten? Ist der Ukraine damit geholfen? Und was bedeutet das für den Eurovision Song Contest? Eine Meinung.
Auf Social Media kursiert ein Meme, das den russischen Präsidenten Putin beim Telefonieren zeigt. Darüber der Spruch: «Hallo Finnland, wollt ihr den nächsten Eurovision Song Contest gewinnen?». Das ist natürlich nicht lustig, wenn man es zu Ende denkt. Dennoch drückt es auf sarkastische Art und Weise aus, was einige Eurovision Fans denken und auch kaum angezweifelt wird. Kalush Orchestra hat mit «Stefania» vor allem deshalb den ESC 2022 gewonnen, weil Europa Solidarität mit der Ukraine zeigte.
Als Zeichen für ein friedliches Europa ist das sicher gut so. Ob es für Kalush Orchestra vom künstlerischen Standpunkt her wirklich befriedigend ist, das muss man wohl sie selbst fragen. Zweifelsohne: Das Eurovision-Publikum zeigte Solidarität. Es gab 28 Mal 12 Punkte, 8 Mal 10 Punkte, 2 Mal 8 und schliesslich ein Mal 7 Punkte. 439 sogenannte Tele-Punkte sind die höchste Anzahl, die seit Einführung von Jury und Tele im 2017 je vergeben wurde. Salvador Sobral bleibt mit «Amar Pelos Dois» jedoch der erfolgreichste Sieg nach Punkten, da er zu seinen 376 Publikums-Punkten bei der Jury 382 Punkte holte. Kalush Orchestra erzielte bei der Jury «nur» 192 Punkte. Damit landete die Ukraine auf dem 4. Platz in der Jury-Wertung.
Die würdige Siegerin als Propaganda-Opfer
Ich hätte es nicht für möglich gehalten und habe es in mehreren Interviews immer wieder gesagt: Das Publikum alleine wird nicht für den Sieg reichen und die Jury wird sich auf die Qualität des Songs fokussieren und deshalb nicht viele Punkte dafür geben. Seien wir ehrlich: In anderen Zeiten hätte der Song den Sieg nicht geholt. Was vor allem Eurovision-Fans wissen: Es war nicht «Stefania» von Kalush Orchestra, das den ukranischen Vorentscheid «Widbir» gewann. Gewinnerin war Alina Pash mit «Shadows Of Forgotten Ancestors». Doch ein Auftritt auf der Krim, wo sie gemäss Vorwürfen Einreisepapiere gefälscht haben soll, wurde ihr zum Verhängnis. Der Druck wurde zu gross: Sie gab am 16. Februar bekannt, ihre Teilnahme für den ESC 2022 zurückzuziehen: «I am an artist, not a politician». Der Song von Alina Pash war in den Wetten auf Rang 2. Mit ihrem Rückzug und der Bekanntgabe von Kalush Orchestra fiel die Ukraine in den Wettquoten auf Rang 5 (22.05.2022), also nahe bei der Jury-Platzierung. Erst mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine am 24.05.2022 stieg die Ukraine bei den Buchmachern auf Rang 1 und war fortan der unangefochtene «Favorit». Für mich wäre Pash mit ihrem Song eine würdige Siegerin gewesen.
Die Frage muss erlaubt sein: Ist der Sieg der Ukraine zurecht erfolgt? Ich meine: Nein. Besonders unter Eurovision-Fans war die Enttäuschung nach dem Grand-Final anzusehen. Wo soll der nächste ESC denn stattfinden? Was, wenn die Ukraine immer noch im Krieg ist, gewinnen sie dann nochmals aus Solidarität? Der ESC ist politisch, das steht zweifelsohne fest (siehe auch unser Kommentar) und nach 2022 wird dies niemand mehr bestreiten. Aber gleich ein Sieg für ein Land aus Solidarität?
Es fühlt sich genauso falsch an, wie wenn die Jury-Punkte von Griechenland an Zypern und umgekehrt gehen. Und was haben die Menschen am Schluss davon? Ich wurde einige Mal gefragt, wo der ESC 2023 stattfinden wird. Dazu mehr hier. Es ist kaum anzunehmen, dass die EBU das Risiko eines ESC eingeht, der in letzter Sekunde abgesagt werden muss. Sowohl Selenski als auch Putin würden den Song Contest (erneut) als Plattform für Propaganda missbrauchen. Viele fragen sich auch, woher das Geld kommen soll. Nun, eine einfache Rechnung: Ein Panzer kostet rund 15 Millionen Euro. Die Durchführung eines ESC rund 30 Millionen. Für was würde sich ein Land also entscheiden, um richtig viel Propaganda zu haben?
Give Song Quality A Chance!
Nun wird es spannend, was die European Broadcast Union EBU mit diesem Ergebnis macht. Auch angesichts des Umstands, dass es anscheinend in sechs Ländern auffällige Voting-Muster gab. Und sich vielleicht der gegenseitigen Punktezuschieberei von Zypern und Griechenland annimmt.
Es ist wie es ist. Europa setzte ein Zeichen. Dennoch hoffe ich, dass die Songs und ihre Qualität wieder mehr ins Zentrum rücken. Sonst landen wir bei der Qualität von Casting-Shows, wo diejenigen Kandidat:innen gewinnen, die die grösste Diskrepanz zwischen ihrem vom Publikum wahrgenommenen Schicksal und ihrem Können haben. Immerhin: Die Fachjurys haben ihren Job in Ansätzen gut gemacht und den Song beurteilt. Aber auch hier gab es aus meiner Sicht noch zu viele, die sich vom Solidaritätsgedanken leiten liessen.
Selbstverständlich dürfen Zeichen für Geschehnisse in Europa sein. Im Grand Final wurde dies mit dem Opening sehr clever gelöst. Eine schöne und richtige Geste. Und so bin in Gedanken bei den Menschen aus der Ukraine: «Give Peace A Chance». Und ergänze in Gedenken an den Song Contest: «Give Song Quality A Chance».
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