Jamala hat also für die Ukraine den Song Contest 2016 gewonnen. Was erzähle ich bloss meinen Kollegen im Büro darüber? Dass der Gewinn der Einzug der Politik in den sonst neutralen Eurovision Song Contest sei? Dass der Song musikalisch kaum in die Eurovision-Geschichte eingehen wird? Dass ich froh bin, dass Australien nicht gewonnen hat? Tatsächlich war ich nicht für Australien. Wohlverstanden: Dami Im und ihr Song sind genial. Trotzdem passt für mich Australien noch nicht zu EUROvision. Und ich war mir sicher, dass das europäische Fernsehpublikum gleicher Meinung sei. Und ich mag den Song von Jamala. Aber ich kann ihn mir beim besten Willen nicht an einer Eurovision-Party vorstellen. Ich denke nicht, dass man sich lange an den Song erinnern wird. Wohl aber an sein politisches Statement. Somit bleibt für mich noch eine zentrale Frage: Ist der Song politisch oder nicht? Und was heisst das für den ESC?
Ist der Eurovision Song Contest etwa nicht neutral?
Der Song handelt von der Deportierung der Tataren von der Krim durch Stalin. Es ist die wahre Geschichte der Urgrossmutter von Jamala. Und somit ein Lied, das die Handlungen der Russen von 1944 anklagt. Als Jamala mit «1944» im Februar 2016 den ukrainischen Vorentscheid gewann, wurde die Botschaft des Lieds intensiv diskutiert. Die EBU musste sich damit auseinander setzen, ob das Lied zugelassen wird. Sie entschied sich dafür. Obwohl im Regelwerk der EBU unter 1.2.2) (h) steht:
No lyrics, speeches, gestures of a political or similar nature shall be permitted during the ESC.
Wie hätte die EBU auch anders können? Bereits 2015 winkte sie den französischen Titel «N’oubliez pas» durch, der an den 2. Weltkrieg und damit die Taten der Deutschen erinnern sollte. Ich bin also mehr denn je überzeugt, dass es hier sehr wohl um politische Inhalte geht. Dass der ESC also tatsächlich sehr viel mit Politik zu tun hat. Warum sollte die auch plötzlich an einem Liederabend ausgeklammert werden können? Nicht zuletzt – so wies mich dann eine Bürokollegin darauf hin – ist Europa mitunter ein politisches Konzept. Wikipedia definiert:
… der Begriff «Europa» (sich) nicht in der geographischen Definition erschöpft, sondern sich auch auf historische, kulturelle, politische, wirtschaftliche, rechtliche, ideelle und identitäre Aspekte bezieht.
Ja, der Eurovision Song Contest steht auch für Politik. Für Historie. Für ideelle Werte. Für Identität. So wie es die Definition Europas auf Wikipedia umschreibt. Es ist also grundfalsch, den ESC als unpolitisch und neutral zu sehen. Warum leugnen, was Realität ist? Bekennen wir uns doch dazu! Und geniessen wir, dass über diesen Liederwettbewerb auch (politische) Meinungen geäussert werden. Etwa Pfiffe für Russland und seine Schwulenpolitik. Oder eben ein Sieg von Jamala und damit ihr Wunsch, «solche Tragödien in Zukunft zu vermeiden». Oder wie wärs mit 10 Punkten des russischen Volks an die Ukraine und 12 Punkte des ukrainischen Volks an Russland? Was eindrücklich zeigt: Während die Fachjurys von Russland und der Ukraine das jeweils andere Land auf die letzteren Plätze setzen, vergibt das Volk Höchstpunktzahlen an das andere Land. Das sind starke Zeichen an die politischen Mächte. Auch der Sieg von Jamala ist ein Zeichen. Von Europa für Europa. Man wollte Jamala als Siegerin. Und sie formulierte stellvertretend für Europa das, was wohl viele Menschen fühlen und sich innig wünschen:
I really want peace and love for everyone.
Bild: abcnews.go.com