In Europa ist Krieg. Und just das Land, in das Russland einmarschiert ist, soll den Eurovision Song Contest heuer gewinnen. Es fragt sich: Soll ein Song aus Solidarität gewinnen? Und: Ist der ESC nun politisch oder nicht?
«Nieder mit Franco, nieder mit Salazar», mit diesen Worten stürmte ein Mann beim ESC 1964 die Bühne und protestierte damit gegen das Militärregime in Spanien. 1975 blieb Griechenland dem Contest fern aus Protest gegen den Einmarsch der Türkei in ihrem Land. Und 2019 warf Palästina dem austragenden Land Israel vor, es würde den ESC als Plattform missbrauchen, es lag gar Krieg in der Luft. Politische Statements gehören zum Eurovision Song Contest. Obwohl der grösste Musikwettbewerb alles andere als politisch sein möchte. Das Reglement besagt:
The ESC is a non-political event. All Participating Broadcasters, including the Host Broadcaster, shall be responsible to ensure that all necessary measures are undertaken within in their respective Delegations and teams to safeguard the interests and the integrity of the ESC and to make sure that the ESC shall in no case be politicized and/or instrumentalized and/or otherwise brought into disrepute in any way.
eurovision.tv, Regel 2.7 (i), 17.03.2022
Der Ausschluss von Russland vom Eurovision Song Contest 2022 aufgrund des Einmarschs in die Ukraine erfolgte nicht entschlossen. Die European Broadcast Union EBU wollte sich lange neutral geben. Der Druck auf die EBU wurde jedoch immer grösser und so entschied sie sich erst am 25. Februar 2022 dazu. Dies, nachdem sie sich tags zuvor noch offen gegenüber beiden Ländern zeigte. Damit brach die EBU ihre eigene Regel 2.7 (i). Der Entscheid stiess auf Zustimmung. Man könnte jedoch auch argumentieren, dass sich durch die Präsenz Russlands noch mehr Gelegenheiten für (Friedens-)Botschaften ergeben hätten. Wie auch immer: Der Entscheid ist deutlich politisch. Und deshalb wird allenthalben diskutiert, ob der der Eurovision Song Contest nun doch politisch sei.
Mit 56 Nationen kann man nicht nicht politisieren
Machen wir es kurz: Selbstverständlich ist er das! Genauso wie man gemäss Watzlawick nicht nicht kommunizieren kann, ist es für einen ESC mit bis zu 56 Nationen kaum möglich, unpolitisch zu sein. Davon zeugen nicht selten auch Gewinnerlieder: 1982 wünschte sich die deutsche Nicole «Ein bisschen Frieden» und setzte ein Zeichen gegen den drohenden Falklandkrieg und militärische Aufrüstung. 1992 gewann der Italiener Toto Cutugno mit dem Lied «Insieme», einer Botschaft für ein vereinigtes Europa. Und 2016 erinnerte die ukrainische Sängern Jamala mit ihrem Lied «1944» an die Deportation der Krimtataren, ein Schicksal, das ihre Grossmutter ereilte. Dass sie in diesem Jahr selbst aus der Ukraine fliehen musste, genau das wollte sie mit dem Song verhindern. Dies sagte sie uns im Interview in 2016:
Es würde erstaunen, wenn die grösste Showbühne der Welt mit 200 Millionen Zuschauenden nicht auch geschickt für politische Zwecke eingesetzt würde. Die Frage muss deshalb lauten: Ab wann ist es politisch? Nicht alles ist so eindeutig interpretierbar wie der Ausschluss Russlands. Dazu ein Beispiel zum Nachdenken: 2013 repräsentierte Krista Siegrids Finnland mit dem Song «Marry Me». Das Lied war eine Hymne auf die Ehe für alle und ihr Auftritt beinhaltete auch einen Kuss einer Frau. Die Türkei war alles andere als glücklich damit. Schaut man auf die Werte, die ebenfalls im ESC-Reglement festgehalten sind, so passt der Song perfekt zu Diversity. Ein Link zu Politik entdeckt man darin nicht. Oder doch? Just in dieser Zeit diskutierte Finnland die Öffnung der Ehe für alle Menschen. Krista Sigfrids bekannte sich klar dazu, dass sie den Diskurs damit beeinflussen wollte. Und plötzlich wird es politisch. An diesem Beispiel wird deutlich: Die Grenzen ob Politik oder nicht Politik sind fliessend und kaum objektiv zu definieren. Am Schluss ist es die Werthaltung Europas, die entscheidet. Und punkto Krieg und Ausschluss Russlands scheinen die Werte ganz eindeutig zu sein und somit war es absehbar, dass die EBU Russland ausschliessen würde.
Gewinner 2022: Bester Song versus starkes Zeichen
Doch rechtfertigt die aktuelle Werthaltung auch einen Sieg der Ukraine? Mit über 33% Gewinnchancen sehen das die Buchmacher in diesem Jahr so. Das Land kletterte nach dem Beginn der russischen Invasion auf Platz 1. Es handelt sich dabei aber nicht um den Gewinnersong, der am 12. Februar 2022 bei Vidbir erkoren wurde und sofort den zweiten Platz in den Wetten erreichte. Im Nachgang disqualifizierte der ukrainische Fernsehsender die Gewinnerin Alina Pash (auch hier: Politik) und nominierte stattdessen Kalush Orchestra mit «Stefania». Dieser Song-Swap liess die Ukraine in den Wettquoten zurückfallen. Somit kann man objektiv sagen, dass der Song gemessen an seiner Qualität nicht per se ein Gewinnersong ist.
Steht somit das starke Zeichen über der Bewertung der Qualität von Act, Song und Inszenierung? Soll in diesem Jahr ein starkes Zeichen der Sympathie gesendet werden, indem die Ukraine gewinnt? Das werden Publikum und Fachjury entscheiden müssen. Die Fachjury hat sich jedoch in der Vergangenheit meist weniger vom Weltgeschehen leiten lassen als das abstimmende TV-Publikum. Ebenso sind die Wetten lediglich ein Gradmesser. In der App myeurovisionscoreboard, die von den Eurovision-Fans zur Bewertung der Songs gebraucht wird, ist die Ukraine nicht mehr so deutlich vorne und erreicht nicht mal die Top 10. Und nicht zuletzt wird bis zum grossen Finale am 14. Mai 2022 noch einiges passieren. Einiges punkto Inszenierung der Songs und einiges im Weltgeschehen.
Dennoch wäre es auch ein schönes Zeichen, wenn Europa sich solidarisch zeigt und eine starke (politische) Botschaft aussendet. Es würde genau jene Worte zum Ausdruck bringen, die Jamala 2016 in ihrer Siegesrede verwendete: «I really want peace and love for everyone». Denn um genau das geht es beim Eurovision Song Contest: Um Liebe und ein friedliches Miteinander von 56 Nationen. Dazu hat die Politik massgeblich beizutragen.
Bild: Verka Serduchka
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