Wohlverstanden: Manchmal überträgt sich die eigene Stimmung auf die eigene Meinung. Aber in diesem Jahr bin ich nicht der einzige, der nicht ganz warm geworden ist mit dem Eurovision Song Contest. Und so sitze ich – zwei Stunden bevor das Finale über die Bühne geht – im Pressezentrum mit dem Entschluss, mich auf die Suche nach Gründen für dieses lauwarme Gefühl zu machen. Et voila:
Die Bühne: Ein Schiff auf Irrfahrt
Das Motto «All Aboard» ist wirklich gelungen. Portugal, die Seefahrernation, Völker zusammenbringen, entdecken, das Meer und viele lustige Tierchen aus dem Meer – ich war begeistert vom diesjährigen Motto. Ich bin aber weniger davon begeistert, wie das Motto auf die Bühne gebracht wurde. All die verspielten Meeresgestalten im Logo, ich habe sie nicht mehr auf der Bühne gefunden. Und vor allem fehlte mir eine LED-Wand, wo all diese Organismen zum Leben erweckt werden. Das Fehlen der LED-Wand wird einem bewusst, wenn man die Acts anschaut: zu austauschbar. Vor allem in der Halle selbst hat man das Gefühl, dass die Acts alle ein Konzert geben. Mit kleinen Wechseln im 3-Minuten-Takt. Nur ein Akt hat sich aus meiner Sicht perfekt in diese Szenerie integriert: Armenien’s Sevak Khanagyan mit “Qami”. Seine “Steinskulpturen” passten fügten sich harmonisch in den Rumpf des Schiffs der diesjährigen ESC-Bühne ein.
Das Wetter: brrrrrr
Von 3000 Sonnenstunden war die Rede, als wir für das Lisbon-Battle mit ZIBBZ recherchierten. Das gibt 8 Stunden Sonne pro Tag. Obwohl ich von vielen gewarnt wurde (diese und jener waren in Lissabon und hatten allesamt schlechtes, regnerisches und kaltes Wetter) nahm ich kurze Hosen, Trägershirts und Flip-Flops mit. Ich brauchte sie so gut wie nicht. Kurzum: Lissabon hat ein hervorragendes Marketing, um die Sonnenstunden zu vermarkten. Wir hatten trotzdem ar***kalt.
Die Herzlichkeit: sie fehlte
Irgendwie fehlten mir die Gespräche mit den Volontären, die Gespräche mit abtastenden Sicherheitskräften, ein Lächeln hier und ein Lächeln da. Das Pressezentrum hatte den Schwarm eines Kühlschranks (und so war teilweise auch die Temperatur in den ersten Tagen). Von der Platznot gegen Ende sprechen wir lieber nicht. Es gab genau eine Ausnahme. Und diese Frau arbeitete im Hafen-Restaurant des Pressezentrums. Sie umsorgte alle wie eine mamãe. Sie kümmerte sich um Sänger genauso wie um die Produktionscrew und um mich. Ich fühlte mich wohl mit ihr. Und zum Abschied gab es 3 Küsschen. Ich werde SIE vermissen.
Die Schweiz: zu früh ausgeschieden
Mit wem man auch sprach: Die Pressevertreter mochten den Schweizer Song. Die Umsetzung gefiel, Co und Stee kamen gut an, es sei seit langem der beste Beitrag. Viele sahen die Schweiz im grossen Finale, aber alle täuschten sich letztlich. Die Schweiz musste am Dienstagabend im Semi-Final 1 den Koffer packen. Ende, Aus, Raus. Trotz gutem Auftritt. Natürlich, es war ein Killer-Halbfinale. Aber das darf nicht als Entschuldigung herhalten. Wenn man diesen Wettbewerb gewinnen will, dann braucht man auch einen Killersong. Und den haben wir bei weitem nicht. Und auch nicht das System dazu, einen zu finden. Zu viele reden mit. Bekanntlicherweise verderben zu viele Köche den Brei.
Die Songs: sind – seien wir ehrlich – Durchschnitt
Im nächsten Jahr nehme ich mir eines ganz besonders vor: Ich werde jeden Song gleich nach dem ersten Hören bewerten, meine Gedanken dazu niederschreiben und mich immer wieder daran erinnern. Denn je mehr man sich die Songs anhört, desto mehr freundet man sich mit ihnen an. Plötzlich findet man fast alle 43 Songs toll und erwischt sich dabei, wie man mitwippt. Spricht man aber mit Aussenstehenden und lässt sie die 43 Songs durchhören, merkt man: Durchschnitt. Wohl deshalb werde ich immer wieder angekickt, dass ESC doch nur ein Stelldichein von Looser-Songs sei. Ich verteidige das vehement. Weiss jedoch auch, dass hierin wirklich ein Fünkchen Wahrheit verborgen ist. Gerade in diesem Eurovision-Jahr. In diesem lauwarmen Eurovision-Jahr.