«Boys Do Cry» von Marius Bear sammelte fleissig Punkte von den internationalen Fachjurys. 21 Länder vergaben zwischen 1 und 10 Punkte. Dann aber die bittere Pille: «Switzerland, zero points».
Diesen Moment um exakt 0 Uhr 48 Minuten und 44 Sekunden wird Marius Bear wohl nicht so schnell vergessen. Laura Pausini setzt an: «You have received from the public …» und dann der herbe Schlag: «zero points». Der Kopf von Marius zeigte erst keine Regung, fällt dann aber Sekunden später nach vorne.
Zitterpartie im 1. Halbfinale
Schauen wir uns aber doch zuerst einmal an, wie Marius Bear ins Halbfinale einzog. Auch hier zeigt sich: Der Song «Boys Do Cry» ist ein klassischer Jury-Song. Wir landeten im 1. Semi-Final bei den Jurys auf Platz 5 hinter Griechenland, Niederlande, Ukraine und Portugal. Dies zeigt auch: Die Jurys sind für Balladen zu haben. Denn mit Ausnahme von «Stefania» handelt es sich bei den Top 5 des 1. Semi-Finals um dieses Genre. Vom Publikum gab es aber auch im 1. Halbfinale nicht besonders viel Punkte. Vor dem Schlusslicht Slowenien («Disko», LPS) kommt bereits die Schweiz. 11 Punkte aus 6 Ländern kamen zusammen. Das Maximum waren je 3 Punkte aus Litauen und Österreich. Alsdann 2 aus den Niederlanden und je einen Punkt aus Dänemark und Island. Damit wird deutlich, wie sehr Jury und Publikum auseinanderklaffen: satte 96 Punkte. Ähnlich gross ist die Differenz bei Griechenland mit 91 Punkten Abweichung. In die andere Richtung ist das nur bei Moldawien der Fall. Der «zügige» Song erhält 19 Punkte von der Jury und 135 Punkte vom Publikum, Differenz 116.
Mit total 118 Punkten belegte die Schweiz den 9. Rang im 1. Halbfinale.


Grand Final mit grosser Enttäuschung
Bei der Punkteverteilung der Jurys am Samstag, 14. Mai 2022, hatte alles so verheissungsvoll begonnen. Die Schweiz sammelte fleissig Punkte aus 21 Ländern. Es gab:
- 6 x 1 Punkt: Österreich, Kroatien, Nord-Mazedonien, Norwegen, San Marino, Spanien
- 4 x 2 Punkte: Dänemark, Deutschland, Portugal, England
- 2 x 3 Punkte: Italien, Lettland
- 3 x 5 Punkte: Polen, Rumänien, Slowenien
- 2 x 6 Punkte: Tschechien, Ukraine
- 3 x 7 Punkte: Bulgarien, Litauen, Moldawien
- 1 x 10 Punkte: Niederlande
Damit schaffte es die Schweiz in die linke Hälfte des Scorboards auf Platz 12.

Dann der berüchtigte Nuller. Kein TV-Publikum gab der Schweiz Punkte. Das ist umso bitterer als dass es in diesem Jahr nur ein Mal 0 Punkte vom Publikum gab. Eben: für die Schweiz. Nur Malik Harris aus Deutschland musste ebenfalls zittern. Sein Song «Rockstars» erhielt keine Punkte von den Jurys, dafür 6 Punkte vom Publikum, einen Drittel davon aus der Schweiz.
An was könnte es liegen, dass es keine Punkte für die Schweiz vom Eurovision-Fernsehpublikum gab? «Boys Do Cry» scheint ein Song zu sein, den man mehrmals hören muss, um seine Qualität zu erkennen. Der Grossteil des Fernsehpublikums hört ihn ein Mal. Wenn überhaupt. Denn oft sieht man den ESC ja auch mit Freunden und da kann es laut zu und her gehen. Generell hatten es die Balladen in diesem Jahr schwierig. Hinzu kommt die herausfordernde Startposition 5. Höhere Startnummern werden besser erinnert, wenn es dann ans Abstimmen geht. Zudem: Beim Recap aller Songs wählte RAI einen visuell schönen Ausschnitt. Leider kam aber ausgerechnet darin der wichtigste Assett von Marius nicht zum Tragen: seine Stimme. Ob das nun zu weniger Punkten führte, das ist eher Spekulation. Nicht zuletzt: Das Gewinnerlied heimste mit 439 Punkte so viele Publikumspunkte wie noch nie ein, dass es schwierig war für übrige Länder, Punkte zu sammeln. Und auch die Gassenhauer von Moldawien (Trenuleţul), Spanien (SloMo) und Serbien (In Corpore Sano) holten weitere 692 Punkte der total 2320 Punkte.
Das Highlight: Die Schweiz erreichte zum dritten Mal in Folge das Finale. So einen Lauf hat es seit der Einführung des Halbfinals im Jahr 2004 noch nie gegeben. Und der 17. Rang ist ein tolles Ergebnis. Nur SEBalter (13), Vanilla Ninja (8), Luca Hänni (4) und Gjon’s Tears (3) erzielten seither bessere Platzierungen.
Marius Bear gab sich sehr siegessicher mit der Ankündigung des Songs und meinte: «Dieser Song wird gewinnen». Überzeugt soll man sein. Dass dies jedoch etwas gar hochgegriffen war, hätte man schon früh aufgrund von Wettquoten und Umfragen merken und Marius auch entsprechend vorbereiten müssen. Erwartungs-Management nennt man das. Wir erinnern uns an die Geschichte «Des Kaisers neue Kleider». So hätte man zumindest die Blick-Headline «Es war der falsche Song» vermeiden können und das Interview eines Verlierers (notabene: einer von 38) wäre anders ausgefallen als am Sonntagmorgen früh in den Medien war.
Wir sind zufrieden mit Marius’ Leistung und er darf es durchaus auch sein.
Bilder: Eurovisionworld, Still aus dem Video «ESC Tiny Tunes: Marius Bear singt “Boys Do Cry” zur Ukulele»
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