Es ist ein ausgeklügeltes Verfahren, das hinter der Schweizer Eurovision Songauswahl steht. Es scheint aber punkto Geschmack des Eurovision-Publikums komplett versagt zu haben. Wir tauchen in die Tiefen der zero points für «Boys Do Cry» ein.
«Zero points» vom Publikum. Dieses Schicksal erlitt unser Schweizer Eurovision Act Marius Bear am Samstag im Grand Final des Eurovision Song Contest. Noch bitterer: Die Schweiz erhält an diesem Abend als einziges Land null Punkte vom Eurovision-Publikum. Wir analysierten die Resultate bereits ausführlich.
Jetzt tauchen wir noch etwas tiefer ein. Denn es kann durchaus sein, dass ein Song null Punkte erhält, weil er nicht in die ersten 10 kommt, aber durchaus beim Publikum ankommt und es in jedem Land ins Mittelfeld schafft. Theoretisch könnte ein Song in jedem Land auf dem 11. Platz abschliessen, was letztlich auch nur für 0 Punkte reicht.
Deshalb haben wir das gesamte Scoreboard vertieft angeschaut. Auf der Website von eurovision.tv sind die Resultate je Land detailliert aufgeführt. Es ist ersichtlich, wie die 5 Jury-Mitglieder abstimmten und auf welchen Rang die Zuschauenden (Tele) ein Land setzten. Von 6 Ländern liegt kein detailliertes Voting-Ergebnis vor, da in diesen Ländern verdächtige Abstimmungsmuster vorlagen, siehe Statement der EBU. Ebenso ist selbstredend die Schweiz in unserer Zusammenstellung nicht aufgeführt. Somit können wir die Punkte aus 33 Ländern analysieren. Respektive die Platzierung des Schweizer Beitrags. In der Tabelle unten ist der jeweilige Rang des Schweizer Beitrags im Grand Final vom 14. Mai 2022 angegeben, nach Votings von Jury und Fernsehpublikum (Tele).
«Boys Do Cry» im Schnitt über Rang 20
Das Eurovision-Publikum in 19 Ländern schickt die Schweiz mit «Boys Do Cry» auf die letzten Plätze. Das bedeutet 20 oder noch weiter hinten (von 25 Plätzen). Im Durchschnitt reicht es der Schweiz auf Platz 20,5. Die Einwohnenden von Bulgarien und Israel mögen den Song überhaupt nicht, die Schweiz bei ihnen auf dem letzten Platz. 6 Mal gibt es Rang 24, 5 Mal den 23. Platz und 3 Mal Platz 22. Am besten schneidet Marius Bear in Norwegen mit dem 13. Televoting-Platz ab. Auch Island findet etwas Gefallen am Song (Platz 15). Damit muss pointiert gesagt werden: Der Schweizer Song ist deutlich am Publikumsgeschmack vorbeigeschrammt.
Wie kann das passieren, steckt doch hinter der Selektion des Schweizer Songs ein ausgeklügeltes Verfahren? Dieses kommt von der Firma Digame, die auch das Voting für den gesamten Eurovision Song Contest auf die Beine stellt. Dafür wurden per 2022 ein neues Panel rekrutiert. Es handelt sich somit nicht mehr um dasselbe Panel, das für den Erfolg von Luca Hänni und Gjon’s Tears garantierte. Der Schweizer Head of Delegation Yves Schifferle meinte auf Anfrage von douzepoints.ch:
«Der Selektionsprozess hat gezeigt, dass wir eher einen sogenannten «Jury-Song» haben. Dass wir beim Televoting und somit bei den Zuschauer:innen gar nicht punkten konnten, überrascht uns jedoch und war in dieser Klarheit nicht abzusehen. Wir werden im Rahmen einen Debriefings mit Digame der Frage nachgehen, wie es dazu kommen konnte und wie wir gemeinsam den Prozess verbessern können.»
Yves Schifferle, Head of Delegation Switzerland
Yves Schifferle unterstreicht weiter, dass der Selektionsprozess zeige, mit welchem Song die Schweiz die Chance auf die meisten Punkte habe und nicht, welchen Platz man erreichen könne.
Nun gilt es, den Blick in die Zukunft zu werfen und für das Auswahlverfahren die nötigen Lehren zu ziehen. Gibt es Fehler im System? Zumal das System in ähnlicher Form auch in Deutschland eingesetzt wird. Und vor allem ist die zentrale Frage: Repräsentieren die 100 Mitglieder des Zuschauer-Panels wirklich den Musikgeschmack Europas? Die Selektion erfolgt jeweils aufgrund einer Bewertung von Songs, die bereits am ESC teilnahmen. Damit wird ein Panel rekrutiert, das dem ESC-Publikumsvoting entspricht. Eurovision-Fans könnten sich somit aufgrund der bekannten Resultate ins Panel hieven. Jedoch nicht aufgrund ihres Geschmacks sondern ihrer Cleverness.
Wohlverstanden: Die Schweiz erreichte zum dritten Mal in Folge das Finale. So einen Lauf hat es seit der Einführung des Halbfinals im Jahr 2004 noch nie gegeben. Und der 17. Rang ist ein tolles Ergebnis. Nur SEBalter (13), Vanilla Ninja (8), Luca Hänni (4) und Gjon’s Tears (3) erzielten seither bessere Platzierungen. Deshalb: Wir sind stolz auf Marius Bear und seine Leistung am Eurovision Song Contest 2022 in Turin. Wir freuen uns auf den Schweizer Eurovision Song 2023.
Bild: Still aus dem Video «Marius Bear – Boys Do Cry – Switzerland 🇨🇭 – Official Music Video – Eurovision 2022»
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