Seit 10 Jahren sind sie das Pendant zu Sven Epiney und kommentieren für das Westschweizer Fernsehen RTS den Eurovision Song Contest: Jean-Marc Richard und Nicolas Tanner. Zu diesem Jubiläum haben sie ein umfassendes Eurovision-Werk in Buchform veröffentlicht: «La Saga Eurovision». douzepoints.ch traf die beiden im Pressezentrum von Kyiv, um mit ihnen über das Buch und ihre Leidenschaft für den ESC zu sprechen.
douzepoints.ch: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben?
Nicolas Tanner: Die Idee war schon länger in unseren Köpfen. Und immer, wenn wir uns wieder zum Kommentieren getroffen haben, sagten wir uns: «Wir müssen ein Buch schreiben!» Und da wir nun seit 10 Jahren zusammen das Finale kommentieren, war das einfach der richtige Zeitpunkt.
Ihr habt das Buch zusammen mit Mary Clapasson geschrieben. Wie habt ihr sie getroffen?
NT: Wir trafen uns 2005 in Kiew. Von diesem Zeitpunkt an verband uns eine Freundschaft.
Was war ihre Rolle beim Buch?
Jean-Marc Richard: Wir hatten ganz viele Ideen im Kopf. Die schrieben wir einfach nieder, so wie sie uns durch den Kopf gingen. Wir brauchten also jemanden, der unsere Gedanken strukturieren konnte. Mary ist Drehbuchautorin und realisiert Filme. Somit ist sie gewohnt, zu strukturieren und Geschichten zu erzählen. Zudem hat sie auch Musiksendungen moderiert. Sie kennt sich mit Eurovision aus und verfolgt ihn bereits viele Jahre. Wie bei Nicolas hat es auch bei ihr als Fan begonnen.
Wann habt ihr mit dem eigentlichen Schreiben begonnen?
NT: Wir arbeiten seit 2 Jahren an diesem Buch. Zunächst war es viel Recherchearbeit. Wir suchten Archive und Fotos und verfolgten die Geschichten, die wir in unserem Kopf hatten und die wir beim Kommentieren erzählten. Oder jene Geschichten, die uns andere Kommentatoren erzählten.
Welche Vorstellung eures Buches hattet ihr im Kopf?
NT: Wir wollten wirklich ein Buch machen, das nicht einfach ins Französische übersetzt wurde sondern wirklich einen echten Bezug zur französischen Eurovision-Kultur hat.
JMR: Es gab kein Buch, das nahe an die Künstler ranging. Das Interviews mit den Künstlern brachte oder ihre Anekdoten aufgriff. Das wollten wir in diesem Buch bringen. Wir rollen nicht nur die Eurovision-Geschichte von 1956 bis 2017 auf, wir transportieren starke Begegnungen mit Künstlern und Komponisten.
NT: Wir greifen die Eurovision-Geschichte auf und schmücken sie mit Interviews mit ehemaligen Teilnehmenden, mit Komponisten und Personen, die auch heute noch im Contest involviert sind. Etwa Geschichten von Jan Ola Sand oder Christer Björkman. Oder von Fans oder Präsidenten von Fanclubs (Anm. d. Red.: Zum Beispiel Peter Baumann vom Eurovision Fanclub Switzerland).
Was wolltet ihr sonst noch umsetzen?
JMR: Wichtig war uns ein positives Bild des Eurovision Song Contest zu vermitteln. Dies im Gegensatz zu vielen Kommentatoren, die sich über Songs lustig machen und sich auf die Kleider der Sängerinnen und Sänger konzentrieren. Bei Diskussionen innerhalb von SRG SSR idée suisse wurde schon aufgeworfen, ob man nicht in diese eher verunglimpfende Richtung gehen wolle. Aber sowohl wir als auch Sven Epiney wollen das nicht. Wir möchten den Künstlern Respekt entgegenbringen. Und genauso haben wir das auch im Buch umgesetzt. Mit Respekt begegnen wir den Menschen und ihrer Geschichte im Eurovision Song Contest. Es ist eine Geschichte Europas, von Frauen und von Männern.
NT: Und eine Geschichte, die Menschen verbindet. Wir sprechen oft von Nationalismus oder Patriotismus. Für uns ist Eurovision Patriotismus, weil das ein positiver Begriff ist. Eurovision ist positiv: Der Liederwettbewerb bringt Menschen aus ganz Europa zusammen. Unterschiedliche Länder und unterschiedliche Kulturen treffen aufeinander. Und nie sieht man Gewalt beim ESC, wie es sie etwa bei Sportveranstaltungen gibt. Es gibt keine Hooligans und ich hoffe, das wird es nie geben. Und das macht die Schönheit dieses Wettbewerbs aus. Heute mehr denn je in Zeiten von Uneinigkeit und Extremismus in Europa ist der Eurovision Song Contest eine Art Mauer gegenüber diesen Problemen. Dieser Meinung ist auch Björn Ulvaeus von ABBA. Er hat das Vorwort in unserem Buch.
JMR: Er spricht in erster Linie davon in seinem Vorwort. Er betont das Verbindende des ESC innerhalb Europas.
NT: Eurovision hilft dem Frieden in Europa. Während mehreren Stunden ist Europa an den Bildschirmen und in einer Halle versammelt. Der ESC wird zu einem gemeinsamen Thema in Europa, jeder kennt den Musikwettbewerb. Jeder hat Geschichten und Anekdoten über ihn. Das macht seine Magie aus.
Was sind eure ersten Erinnerungen an den Eurovision Song Contest? Woher kommt eure Passion?
NT: Es war im Jahr 1974. Ich war gerade mal 8 Jahre alt und entdeckte ABBA. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich erinnere mich sehr genau an diesen Moment. Da ich früher ins Bett musste, konnte ich das Ergebnis nicht mitverfolgen (lacht). Aber von da an habe ich keinen Contest mehr verpasst. Ich habe alle Informationen zusammengesucht und die Leidenschaft wurde von Jahr zu Jahr grösser.
JMR: In den 70er-Jahren hörte ich in meinem Zimmer Platten von Eurovision-Liedern. Ich träumte davon, beim Grand Prix zu singen. Aber eben: Es gibt Dinge, die man tun kann und andere kann man eben nicht. Ich erkannte sehr schnell, dass ich nie Sänger beim ESC werden kann. Das hat mich aber nicht frustriert. Im Gegenteil: Ich bin fasziniert von Eurovision. Es gab eine musikalische Zeit von Teach In, Hoffman und Hoffman und ABBA. Und dann in den 80er Jahren die europäische Seite. Ich denke, dass in Europa viel über Geld läuft. Und das ist etwas, das mich stört. Die europäische Idee war eine Idee, wo Menschen zueinander stehen, ein eher soziales Europa. Für mich verkörpert eben dieser Wettbewerb meine Vorstellung eines Europas, wie ich es mir gewünscht hätte. Oder wie ich es mir erträume. Ich interessiere mich für Kultur, für Begegnungen und für Austausch. Meine Leidenschaft für diesen Wettbewerb hat vor allem mit meiner Verbundenheit zu Europa zu tun.
Warum ein Buch in digitalen Zeiten?
JMR: Digital ist flüchtig. Bei Eurovision handelt es sich um Kulturgut und ein Buch ist etwas Langlebiges. Das passt besser zusammen.
NT: Es ist ein Buch, in dem man einfach mal so blättern kann. Man muss es nicht von A bis Z durchlesen. Die Struktur erlaubt einem, ganz selektiv in die einzelnen Jahr einzutauchen. Etwa: «Was ist 1988 passiert? Ah, Céline Dion hat für die Schweiz gewonnen.» Man erhält Hintergründe zu diesem Sieg und oft auch einen anderen Blickwinkel. Etwa, was der Komponist über Céline Dion denkt.
JMR: Das Buch eignet sich ideal als Geschenk, weil es eben ein Buch ist. Man kann ja schlecht Social Media in die Hände von jemandem legen.
NT: In vergänglichen Zeiten wird ein Buch eher überdauern.
Ihr seid vielen Menschen bei der Arbeit an eurem Buch begegnet. Was bleibt euch speziell in Erinnerung?
NT: Einen tollen Moment gab es für mich in Moskau. Wir hatten ein sehr kurzes Gespräch mit Patricia Kaas. Nur wir zwei mit ihr. Danach sang sie uns ihr Lied auf der Bühne in Moskau. Kaum jemand war in der Arena. Grosse Emotion.
JMR: Ich habe drei tolle Erinnerungen. Drei verschiedene Treffen: Arlette Zola bei ihr Zuhause mit Fotos und Erinnerungen. Nana Mouskouri in ihrem Daheim mit viel Platin und Gold um uns herum und sie erzählt uns von Eurovision und ihre Leidenschaft dafür. Und schliesslich ein Treffen mit Peter Reber. Er ist ein echter Fan von Eurovision. Als wir ihn trafen, spielte sich etwas Magisches zwischen uns dreien ab. Wir waren auf gleicher Wellenlänge.
NT: Er hatte eine Güte, eine grosse Freundlichkeit. Wir verbrachten einen ganzen Nachmittag mit ihm. Es war wirklich fantastisch. Es gibt so viele Bezüge zwischen Eurovision und ihm. Gerade wir Romands wussten das zu wenig. Und das ist eine Schande, weil es der grösste Songwriter in der Schweiz ist. Ihn getroffen zu haben, war eine grosse Ehre für uns.
Warum sollte man euer Buch kaufen?
JMR: Auch wenn man nicht eine Leidenschaft für den Eurovision Song Contest hat, die Saga Eurovision ist eine spannende Geschichte von jedermann und für jedermann.
NT: Es ist ein Spiegelbild dessen, was auf unserem Kontinent passiert ist. Viele prägende europäische Ereignisse haben auch den Song Contest mitgeprägt: Der Fall der Mauer, der Zerfall Jugoslawiens, der UDSSR. Das macht das Buch ebenfalls interessant.
JMR: Und die Fotos! 220 Stück gibt es davon. Es ist ein Vergnügen, die Fotos von 1956 bis gestern zu entdecken. Darum: kaufen! (lacht)
Was würdet ihr jungen Menschen sagen, die den Eurovision Song Contest nicht mögen?
JMR: Wir würden sie einladen, die vielen Anekdoten in unserem Buch zu entdecken. Das Buch ist einfach zu lesen, die Geschichten und Porträts sind unterhaltsam und machen Spass.
NT: Es ist interessant, dass es junge Leute gibt, die sich für den ESC interessieren. Wir haben auch eine Maturarbeit im Buch integriert.
JMR: Die Jungen interessieren sich wieder vermehrt für den ESC über Social Media.
Und welche Zukunft sagt ihr dem Eurovision Song Contest voraus?
NT: Ich denke, eine schöne Zukunft. Für viele Sängerinnen und Sänger ist der ESC ein interessanter Ort für einen Auftritt. Es gibt so viel Herzblut in dem Liederwettbewerb. Und solange es diese Passion gibt, so viel Liebe und so viel Wohlwollen für diese musikalische Reise durch Europa, solange wird es den ESC geben.
JMR: Ich sehe eine Zukunft so wie es eine Zukunft für Europa und die Völkergemeinschaft gibt. Ich sehe eine rosige Zukunft für den Eurovision Song Contest.
Bilder: douzepoints.ch YAPA und ZVG
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