Am 31. März 2015 zeichnete die BBC die Jubiläumsshow «Greatest Hits» zu 60 Jahre Eurovision Song Contest auf. Wie bei einer Aufzeichnung üblich, schafft es nicht alles Material in den Zusammenschnitt. Rausgeschnitten wurden insbesondere die Buh-Rufe vor dem Auftritt Russlands, wie die Zeitung «The Independent» am Sonntag publik machte.
Beinahe 3 Stunden dauerte die Aufzeichnung der Show zum 60-Jahre-Jubiläum des Eurovision Song Contest (siehe Bericht von douzepoints.ch) Gerade mal 90 Minuten dauerte die von BBC ausgestrahlte Sendung «Greatest Hits». Es wurde nicht nur zackig geschnitten, es fehlten (selbstverständlich) Umbauarbeiten, aber auch Warm-ups oder Versprecher wie jene von Lys Assia.
Schnitt: Kein Buh für Russland!
Einschneidend war der Rausschnitt der Szene kurz vor dem Auftritt des Russen Dima Bilan. Der britische Moderator Graham Norton erwähnt das Wort «Russland» und sogleich setzt das Publikum zu Buh-Rufen an, die ihn übertönen. Er muss seine Anmoderation stoppen. Gekonnt beruhigt er das Publikum: «It’s not a competition, we are here to support all the acts, so be nice.» Und ergänzte mit einem Augenzwinkern: «You can boo in Vienna, you can boo at home, but not here.» Neue Anmoderation, grosser Applaus, Auftritt Dima Bilan, alles im Kasten. Heile Welt? Die britische Zeitung «The Independent» machte dies nun in einem Artikel publik und verbindet die Buh-Rufe mit einem Protest gegen Gay-Rechte.
Buh’s sind in Mode!
Selbst anwesend an dem Abend kann ich die Fakten im Artikel von «The Independent» alle bestätigen. Die Buh-Rufe waren sehr laut, Norton hatte keine andere Wahl als abzubrechen. Es ist ansatzweise im Video von Wiwibloggs (siehe unten) zu hören. Das Buhen war noch viel lauter als vor dem Auftritt der Tolmachevy Sisters aus Russland in Kopenhagen 2014. Dort wurde das Publikum vor dem Auftritt darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht um Politik gehe. In der Live-Übertragung war man vorbereitet und übertönte das Buhen mit Applaus, somit war der Protest kaum hörbar. Es stellt sich nun die Frage, ob man von einem unterdrückten Protest gegen Gay-Rechte sprechen kann. Das ist reine Interpretation. Einerseits könnte es mehr gewesen sein: Ein Protest gegen die Gesamtpolitik Russlands. Andererseits scheint es irgendwie Mode am ESC zu sein, Russland auszupfeifen. Übrigens haben Buh-Rufe generell Tradition am Song Contest (siehe Artikel).
Es trifft die Falschen!
Was auch immer die Beweggründe waren: Leidtragende sind die Künstlerinnen und Künstler aus Russland, die im wahrsten Sinne den Kopf auf der Bühne herhalten müssen. Bilan konnte nichts dafür, ebenso wenig die Tolmachevy Sisters. Letztere hatten sehr Mühe damit und brachen nach ihrem Auftritt in Tränen aus − verständlich. Kommt hinzu, dass der Protest kaum zu den Zuschauenden zuhause übertragen wird; TV-Produzenten werden immer rausschneiden oder den Buh-Effekt reduzieren. Das ist legitim, da Russland immerhin auch ein zahlendes Mitglied der European Broadcast Union EBU ist. Was also nützt es? Tut es uns Schwulen einfach gut, mal nicht Sündenbock zu sein?
Es geht um die Musik!
Ich plädiere dafür, sich auf den wichtigen Grundsatz der politischen Neutralität des Eurovision Song Contests zu besinnen. Es soll ein friedlicher Anlass sein, bei dem Länder zusammen kommen und sich beim Singen messen. Ich schäme mich gegenüber den Artisten, im Publikum zu sein. Wir sollten uns also gut überlegen, ob wir künftig bei russischen Interpretinnen und Interpreten buhen wollen. Und bevor mich jemand ausbuht: Ich bin selbst schwul und mit der russischen Politik nicht einverstanden. Hier muss die Politik agieren. Am Eurovision Song Contest in Wien gilt deshalb für mich: Building Bridges!
Video von Wiwibloggs: Dima Bilan booed at Eurovision’s Greatest Hits concert
Bild: Guy Levy / BBC